Der Wille zur Macht als unbedingte Herrschaft der rechnenden Vernunft. Heideggers Sein als das Andere, als von den weltlichen Erscheinungen abgekoppelter Ursprung. Die Sackgasse der Seinsvergessenheit führt zur totalen Verwertung. Alles wird zum Rohstoff - auch der Mensch. Die Entfremdung des neuzeitlichen Menschen als wesentliche Tiefendimension der Geschichte. Heideggers Scheitern evoziert die nicht-ursprungsphilosophische dialektische Alternative: das Sein als kategorielles Sein des Seienden.



4.) Die Entfremdung des neuzeitlichen Menschen als wesentliche Tiefendimension der Geschichte.


Heidegger sieht die Technik als ’Seinsgeschick’, als ’Gestalt der Wahrheit’. Die Technik gründet in der Geschichte der Metaphysik. Die moderne Technik ist die Konsequenz der ’vollendeten Metaphysik’. Die Geschichte der Metaphysik „ist eine ausgezeichnete und die bisher allein übersehbare Phase der Geschichte des Seins. Man mag zu den Lehren des Kommunismus und zu deren Begründung in verschiedener Weise Stellung nehmen, seinsgeschichtlich steht fest, daß sich in ihm eine elementare Erfahrung dessen ausspricht, was weltgeschichtlich ist." (17)

17:) ebd.



Im 'Humanismusbrief' von 1946 deu- tete Heidegger im Bereich der Proble- matik der 'Entfremdung des Menschen' auf eine wesentliche und bedeutende Annäherung an Hegel und Marx, auf die Möglichkeit eines "produktiven Ge- sprächs" innerhalb der Dimension der "Wesentlichkeit des Geschichtlichen im Sein", die der "übrigen Historie", der Phänomenologie und dem Existenzi- alismus unzugänglich bleibt.

In Heideggers Perspektive „trägt und bestimmt“ die Geschichte des Seins nicht nur die Metaphysikgeschichte, sondern alle Geschichte, „jede con- dition et situation humaine.“ (18) Die seinsgeschichtliche ’Erinnerung’ umfasst die Metaphysikgeschichte der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Die Geschichte der Wahrheit des Seins ist „nie vergangen, sie steht immer bevor“.

Damit gründet alles Geschichtliche und alles Gesellschaftliche und alles Wesentliche dieses Geschichtlichen und Gesellschaftlichen in der gesamten ursprünglichen, gegenwärtigen und künftigen Seinsgeschichte „Was aus ihr stammt, läßt sich nicht durch Widerlegungen treffen oder gar beseitigen.“ (19)

Heidegger artikuliert hier die Auffassung, dass insbesondere Hegel und Marx, je auf ihre Weise, in unterschiedlichen Intentionen und Blickrichtungen, in wesentliche Tiefendimensionen der Geschichte hineinreichen, so dass seit Hegels Tod (1831) ohnehin kein Weg an Hegel vorbeiführen kann und sich mit den Nachfolgern und ihren Umkehrungen vielfältige Dialogmöglichkeiten anbieten: "Weil Marx, indem er die Entfremdung erfährt, in eine wesentliche Dimension der Geschichte hineinreicht, deshalb ist die marxistische Anschauung von der Geschichte der übrigen Historie überlegen.“ (20)

18.) Ebd. S. 314
19.)
20.) Brief über den Humanismus, a.a.O. S. 340


Marx und Heidegger versuchen, die Gesellschaft und ihre Geschichte nicht superfiziell zu reflektieren, sondern we- sentliche geschichtliche Tiefendimen- sionen theoretisch zu rekonstruieren. In ihren unterschiedlichen Perspekti- ven erscheinen einige Strukturmerkma- le unilateral, die nur in dieser einen Perspektive sichtbar sind, andere Strukturmerkmale erscheinen bilateral, aus verschiedenen Blickrichtungen he- raus ausgelegt und so kann es auf- grund der Merkmale in den 'Sachen selbst' zu parallelen Darstellungen kommen. Gerade derartige perspektivi- sche Konvergenzen sind philosophisch relevant.

Die ’intersubjektiven’ (21) Berührungspunkte zwischen Marx und Heidegger sind vielfältig: zwischen ihnen steht die nicht-eliminierbare Metaphysikgeschichte, insbesondere die hegelsche absolute Metaphysik und der wirkliche geschichtlich-gesellschaftliche Prozess in seiner objektiven Widersprüchlichkeit. Marx und Heidegger nähern sich intensiv bei der totalen kreisförmig rückgekoppelten ’Verwertung von Allem’.

Heidegger betrachtet zwar die 'totale Verwertung', den sich selbst 'verwertenden Wert', die sich selbst steigernde „Rüstung“, deren ’Nutzung’ zur ’Vernutzung’ eskaliert, und in „die Unbedingtheit der Steigerung und der Selbstsicherung ausgeht und in Wahrheit die Ziellosigkeit zum Ziel hat" (22), aber Heidegger geht nicht den folgerichtigen Schritt zur Analyse des 'Kapitals' und seiner Struktur als reale Trägerelemente des rechnenden 'Willens zur Macht'. Das ’Kapital’ selbst ist reines ’Machtmittel’, reiner Selbstzweck - also: beschleunigende Potenz in völliger Ziellosigkeit.

Heidegger interessiert sich mehr für die ursprüngliche ’Geschichte der Seinsauffassungen’ - weniger für die Folgen - und er findet einen unterhalb der realen Geschichte verlaufenden Seinsgrund, eine Art geschichtliches Unterbewusstsein. So fordert er eine ’Erinnerung in die Geschichte des Seins’:

21.) Vgl.: Husserl, Edmund, Cartesianische Meditationen, Felix Meiner Verlag
22.) Überwindung der Metaphysik, Abschnitt XXVI, a.a.O., S. 88



„Die seinsgeschichtliche Erinnerung mutet dem geschichtlichen Menschentum zu, dessen inne zu werden, dass vor aller Abhängigkeit des Menschen von Mächten und Kräften, Vorsehungen und Aufträgen das Wesen des Menschen in die Wahrheit des Seins eingelassen ist. Deshalb bleibt er lange Zeit ausgelassen aus seinem Wesen und zwar als der Eingelassene in den Aufstand des Herstellens innerhalb des Lichtungsbereiches des Seins im Sinne der unbedingten Vergegenständlichung“.(23)

In Heideggers Sicht ist es unmöglich, die Metaphysikgeschichte ad hoc zu destruieren, denn sie ist nicht nur Verfallsgeschichte, sondern ’Verbergung’ und ’Entbergung’ zugleich: ein ’Ereignis’ der Seinsgeschichte: „Zum Geschick kommt das Sein, indem Es, das Sein, sich gibt. Das aber sagt, geschickhaft gedacht: Es gibt sich und versagt sich zumal.

Gleichwohl ist Hegels Bestimmung der Geschichte als der Entwicklung des 'Geistes' nicht unwahr. Sie ist auch nicht teils richtig, teils falsch. Sie ist so wahr, wie die Metaphysik wahr ist, die im System zum erstenmal durch Hegel ihr absolut gedachtes Wesen zur Sprache bringt. Die absolute Metaphysik gehört mit ihren Umkehrungen durch Marx und Nietzsche in die Geschichte der Wahrheit des Seins. Was aus ihr stammt, läßt sich nicht durch Widerlegungen treffen oder gar beseitigen. Es läßt sich nur aufnehmen, indem seine Wahrheit anfänglicher in das Sein selbst zurückgeborgen ... wird." (24)

23.) Heideg, Die Erinnerung in die Metaphysik in: Nietzsche II, Pfullingen 1989, S. 82
24.) Brief über den 'Humanismus', a.a.O., S. 335/336



In Heideggers Erfahrungshorizont bildet die Seinsgeschichte diejenige Tiefendimension, die aller menschlichen Geschichte und allem menschlichen Handeln zugrunde liegt - unabhängig davon, ob die Menschen dies zur Kenntnis nehmen oder nicht. Die Seinsgeschichte ist „niemals ein menschliches Gemächte“ - sondern ’Es’ schickt das Sein und ’Es’ reicht die Zeit.

Allerdings verwahrt sich Heidegger entschieden dagegen, dieses schickende und reichende mit ’Gott’ zu identifizieren. Heidegger sucht mit seinem seinsgeschichtliches Denken eine ursprüngliche Grundsphäre, die noch vor dem Heiligen und Göttlichen liegt, in der das Heilige und Göttliche erscheinen könnte oder auch nicht.


Würde die suchende Frage nach dem Sein durch eine singuläre mythische, religiöse oder prophetische Gottesdefinition dogmatisch vorzeitig beantwortet, so wäre sie als fragende Suche stillgestellt. Sie hörte auf, weiterhin eine Frage zu sein - wir befänden uns ausserhalb der metaphysischen Fragestellung und auch ausserhalb der Philosophie, die als ‚Streben nach der Wahrheit’ niemals behaupten dürfte, sie hätte die eine absolute Wahrheit erreicht, denn damit wäre ihr Suchen beendet und damit sie selbst.

Heidegger behauptet nicht (in einem religiösen Sinne), den einen Ursprung gefunden zu haben - er sucht die Ursprungsdimension und versucht einen fragenden Dialog mit der gesamten abendländischen Geistesgeschichte und er fordert uns heraus, ebenfalls die totalitäre Enge des aus der vollendeten Metaphysik stammenden technisch-instrumentellen Betriebes zu verlassen und uns dem ’Denken des Ungedachten’ zuzuwenden und uns dabei nicht zu scheuen, auch die vielfältigen ’Holzwege’ zu begehen, die sich oftmals als Irrwege erweisen mögen - deren Irrtümlichkeit aber niemals diejenige ’Irrnis’ erreicht, die sich im grenzenlos taumelnden Universalgetriebe des ’Gestells’ ereignet und die Menschen in eine totale Unterschiedslosigkeit zwingt und durch die ’Vormacht der Leere aller Zielsetzungen’ das ’Ödland der verwüsteten Erde’ (25) hinterlässt.

In der Epoche der Seinsverlassenheit wird die Welt zur Unwelt: „Das Seiende, das allein im Willen zum Willen zugelassen ist, breitet sich in einer Unterschiedslosigkeit aus, die nur noch gemeistert wird durch ein Vorgehen und Einrichten, das unter dem "Leistungsprinzip" steht. ... Die Unterschiedslosigkeit der totalen Vernutzung entspringt einem "positiven" Nichtzulassen einer Rangstufung gemäß der Vormacht der Leere aller Zielsetzungen. Diese Unterschiedslosigkeit bezeugt den bereits gesicherten Bestand der Unwelt der Seinsverlassenheit. Die Erde erscheint als die Unwelt der Irrnis. Sie ist seinsgeschichtlich der Irrstern.“ (26)

25.) Überwindung der Metaphysik, Abschnitt III, a.a.O., S. 68
26.) Überwindung der Metaphysik, Abschnitt XXVII, a.a.O., S. 94



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„Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur um so tiefer in den Naturzwang hinein.“ Seit langer Zeit versuche ich, politisch-philosophisch gegen die Selbstzerstörung unserer Zivilisation zu agieren und auch täglich zum Augenblicke sagen zu können: „Verweile doch! du bist so schön!" Nur durch intensive Erfahrung sind Menschen und Realitäten fassbar, zeigte mein Austauschjahr in Kalifornien. Der immense Technikfortschritt und barbarische Politikrückschritt liessen mich (statt Mathematik, Physik, Astrophysik etc.) Philosophie, Politik, Psychologie, Amerikanistik, Kunst studieren. Anders als die Schule liebte ich die damals 'freiere' Universität Berlin. Bis heute bin ich dort leidenschaftlich tätig. Seit 76 befasse ich mich mit Computerprogrammierung, später mit MIDI, Grafikprogrammen, Spracherkennung usw. Kreierte Aufsätze, Vorträge, Musik, Kunst, Videokunst, organisierte Ausstellungen, bin mehr als 30 Jahre gesegelt, liebe Natur und Abenteuer, lebte zeitweise auf dem Lande (ökolog. Landbau) und versuche jetzt, zwei allgemeinverständliche, spannend lesbare politisch-philosophische Bücher zu schreiben: Philosophie ist "ihre Zeit in Gedanken erfaßt".